1700 Jahre in 90 Sekunden: Die Weltreisende
Zum Festjahr "1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland" präsentiert die Dalman-Sammlung virtuell wird jeden Monat ein besonderes Artefakt.
Der Gründer der Greifswalder Sammlung, der Theologe Gustaf Dalman (1855–1941), war – mit Verlaub – kein Feminist. Auch die leichte Muse blieb dem akribischen Forscher zeitlebens fremd. Dennoch findet sich in seiner Institutsbibliothek ein klassischer Frauenroman. Das Bändchen "Reise einer Wienerin in das heilige Land" spannt in Tagebuchform einen weiten Bogen: von Konstantinopel über Jerusalem bis zum Toten Meer, von dort über Damaskus und Ägypten, mit einem Abstecher nach Italien, wieder zurück nach Österreich. Zunächst erschien das Buch anonym. Erst gut zehn Jahre später gab sie sich Ida Pfeiffer (1797–1858) als Autorin zu erkennen. Die zweifache Mutter und Witwe ging 1842 zum ersten Mal ihrem Fernweh nach. Weitere "Weltreisen" und dazu passende Romane sollten folgen, bis sie in Wien an einem Malariaschub verstarb.
Zu ihrer Zeit war eine alleinreisende Frau, noch dazu in Übersee, eine Ausnahmeerscheinung. Ida Pfeiffer entpuppte sich als ausdauernd und couragiert. Mit großer Neugier beschrieb sie die ihr fremden Kulturen, ohne den Blick einer westeuropäischen Christin konservativer Prägung zu verlieren. Manches idealisierte sie, anderes wertete sie ab, aber sie kritisierte ebenso soziale Missstände. In Palästina bemerkte sie überrascht, wie "nett und rein" das Zimmer bei ihren jüdischen Gastegeber:innen sei. Eingewanderte osteuropäische Jüd:innen fragte sie nach ihren Beweggründen: Das sei "eine große Sehnsucht, die letzten Tage ihres Lebens in der Heimath ihrer Vorältern zuzubringen". Viele dieser Schilderungen liest man heute mit einer Mischung aus Respekt und Kopfschütteln. Gehört ein solches Buch in eine universitäre Sammlung? Vielleicht wird andersherum ein Schuh daraus: Wenn ein kaisertreuer Palästinakundler den Roman einer weltreisenden Biedermeier-Hausfrau in seine Bibliothek aufnehmen konnte, macht diese Spannung unseren Blick auf eine besondere Kulturlandschaft heute erst vollständig.
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